Kobanê und die Lage in der Türkei
Eine Beendigung des sogenannten Friedenprozesses zwischen PKK (Arbeiterpartei Kurdistan) und der türkischen Regierung wird schlimme Folgen haben. Die Regierung hält an harten Kurs gegen alle Oppositionelle fest und verschärft die Repression mittles neuen Sicherheitsgesetzen.
von Festus Okay, Ankara
Die Proteste um Kobanê in der Türkei waren ein Warnsignal für alle und haben nochmal gezeigt, wie schnell die ethnischen und religiösen Konflikte aus dem Ruder laufen können. Deutlich geworden ist zudem, wie tief der Riss zwischen der kurdischen und türkischen Bevölkerung geht; selbst eine Entwicklung hin zu einem blutigen Bürgerkrieg kann nicht mehr ausgeschlossen werden.
Schon gleich nach der Belagerung von Kobanê durch ISIS (beziehungsweise IS, Islamischer Staat) haben Vertreter der PKK auf der Führungsebene die türkische Regierung immer wieder gewarnt. Es gebe genug Hinweise dafür, dass die Türkei hinter der Belagerung von Kobanê stecke. Es sei eine hinterhältige Politik, während die türkische Regierung im eigenen Land mit der PKK über Frieden verhandle, gleichzeitig Kobanê fallen zu lassen. Aussagen der PKK wie „Kobanê ist für die Zukunft des Friedensprozesses entscheidend“ oder „Wenn Kobanê fällt, fällt auch Ankara“ ließen die ernste Situation spüren. Wie sich späterherausstellten sollte, waren diese Vermutungen nicht grundlos. Die AKP-Regierung betrieb eine schmutzige Taktik, indem sie einerseits dem Vorsitzenden der PYD (eng mit der PKK verbundene Partei im syrischen Teil Kurdistans), Salim Muslim, einen Hilfskorridor versprachen, andererseits genau das aberverhindern ließen und den schnellen Fall von Kobanê durch ISIS erhofften.
Die Proteste für Kobanê und die Eskalation
Als nach den wochenlangen Kämpfen in Kobanê die Nachrichten kam, dass ISIS in die Stadt eindringt, gingen gleich Tausende auf die Straße, um ein Zeichen gegen die Haltung der türkischen Regierung zusetzen. Das vorherrschende Gefühl bei den Menschen war einerseits von Hilfslosigkeit, Unmut geprägt, andererseits von Wut darüber, dass Kobenê an ISIS ausgeliefert wird. Erdoğans Aussage, Kobanê sei kurz vor dem Fall, hat Öl ins Feuer gegossen.
Nach dem ersten Todesfall durch eine Schusswaffe geriet bei den Protesten alles außer Kontrolle. Während in Kurdistan zwischen Protestierenden und Hüda-Par (eine islamistische Partei der Hisbollah, nicht mit der libanesischen Hisbollah zu verwechseln) eine blutige Auseinandersetzung stattfand, wurde im Westen der Türkei das Büro der pro-kurdischen Partei DBP (Nachfolger von BDP) von Nationalisten und AKP-nahen Kräften massenhaft angegriffen.
Dazu kam ein mysteriöses Attentat auf eine Polizeistation in der kurdischen Stadt Bingöl, durch das zwei Polizeichefs umkamen. Kurz danach wurden fünf Personen in einem Auto weiter entfernt von der Stadt durch Sicherheitskräfte getötet; Personen, die offensichtlich mit der Tat gar nichts zu tun hatten. Aussagen wie vom Innenminister, „Sie werden mehrfach bezahlen“, erinnerten an die blutigen Zeiten in den Neunzigern. In vielen Städten wurde eine Ausgangssperre verhängt, trotzdem konnte der türkische Staat die Lage nicht unter Kontrolle bringen. So dass die Regierung Hilfe bei dem inhaftierten PKK-Chef Öcalan suchte. Erst durch einen Appell von Öcalan beruhigte sich die Lage allmählich. Das Ergebnis nach dieser Woche war schrecklich: Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen wurden 46 Tote, 682 Verletzte und 323 Festgenommene gezählt.
Alles auf des Messers Schneide
Zum einen haben die Proteste den Druck auf die Regierungen sowohl vor Ort als auch im Ausland erhöht. Zum anderen haben diese Ereignisse die Frage der Kampfmethode aufgeworfen. Die Bilder brennender Autos, Staatseinrichtungen und so weiter kamen bei den Menschen nicht gut an. Die türkische Regierung nutzte die Gelegenheit schnell aus und nahm dies zum Anlass, demokratische Rechte weiter abzubauen. Laut eines neuen Gesetzentwurfs sollen Molotowcocktails als Schutzwaffe gelten. Das bedeutet, die Polizei darf in einem solchen Fall auf denjenigen, der ihn wirft, schießen.
In den letzten anderthalb Jahren wurden die Stimmen gegen Erdoğan und die AKP-Regierung lauter. Mit den Gezi-Protesten wurde die Ablehnung von Unterdrückung und Ausbeutung stärker. Dabei war die Atmosphäre, die durch die Waffenruhe der PKK zustande kam, ohne Zweifel ein wichtiger Faktor. Jetzt droht das beendet zu werden. Dies wird die Situation für die Linke sehr erschweren. Eine Beendigung der Waffenruhe würde der Arbeiterbewegung nur schaden. MarxistInnen, die auf die Einheit der türkischen und kurdischen Arbeiterklasse setzen, müssen die ersten sein, die sich gegen eine Beendigung der Waffenruheaussprechen. Nötig ist es vielmehr, an den Geist der Gezi-Proteste anzuknüpfen und für den gemeinsamen Kampf aller kurdischen und türkischen ArbeiterInnen gegen die Politik der Herrschenden einzutreten.